Von Markus Illmer, Arch.

Gedanken zur Kunst Simone Thurners

 

Wir erwarten vom Kunstwerk – und beurteilen seine Qualität und seinen künstlerischen Rang danach  -, dass es uns berühre, im Innersten betroffen mache, dass es spontan, d.h. unmittelbar zu erfahren und zu erleben sei. Diese an sich legitime Erwartung dürfte aber angesichts des Kunstschaffens Simone Thurners unzureichend sein. Denn der Tiefgang ihres Werkes fordert den Betrachter vorweg zu einer Reflexion seines eigenen Standpunktes heraus; darüber also, was die Bedingungen seines eigenen Verstehens sind, dass ein Kunstwerk sich ihm überhaupt erst mitzuteilen vermag.

In einer Art Voraus-Überlegung soll deshalb zunächst ein knapper Gedankengang aufgenommen werden, dessen einzelne Überlegungen im Grunde nichts Neues bringen, vielmehr von uns allen schon längst bedacht und gewusst sind; die hier aber nochmals eigens und explizit vergegenwärtigt werden sollen, sodass auch wir den Schritt nachvollziehen können, den vor uns die Künstlerin schon getan hat. Ein umso unverstellterer und spontanerer  Zugang zu ihrer Kunst möge sich dann daraus ergeben.

Damit nun zu dieser Hinführung: Wenn wir von etwas sagen, was es sei, grenzen wir es ein und grenzen wir es ab; wir grenzen es z.B. ab von dem, was es nicht sei. Wir stellen  fest und stellen es uns vor innerhalb der Grenzen seiner De-finition; als Vorgestelltes und Festgestelltes wird es statisch, es kommt zu stehen, wird Gegen-Stand. Nun behält ein solcherart statischer Gegenstand in sich insofern noch eine gewisse dynamische Offenheit, als zu ihm auf jede gewonnene Was-Antwort noch weitere, ja schier unendlich viele Was-Fragen gestellt werden können, der Gegenstand somit letztlich unauslotbar und uneinholbar bleibt. Dieser Offenheit auf Seiten des Gegenstandes, d.h. des Objekts, entspricht eine ebensolche dynamische Weite auf Seiten des fragenden und erkennenden Subjekts, dessen Horizont alle diese Fragen als mögliche umgreift und der deshalb ebenfalls nie voll ausgelotet werden kann, sodass auch das Subjekt sich selbst im Letzten uneinholbar, d.h. utopisch bleibt. Hier mag es genügen, uns bewusst zu halten, dass die skizzierte Dualität von Subjekt und Objekt den Rahmen jeglichen Welt-Verstehens bildet, sei  es in Wissenschaft und Technik, aber auch in der Kunst, wie es besonders erfolgreich und machtvoll sich seit dem Zeitalter der Renaissance zur Geltung bringt. Aufgrund der Zentrierung dieses Weltverständnisses im erkennenden und handelnden Subjekt dürfen wir es als ein anthropozentrisch konzipiertes Weltverständnis bezeichnen, dh es entwirft den Sinn von Welt als Anthropozentrik. Zwar ist ein dynamisch-utopisches Element sichtbar geworden, das vor allem den neuzeitlichen  Fortschrittsgedanken in Wissenschaft, Technik und Kunst beflügelte, doch bleibt letztlich die Statik des in den Griff gebrachten und in diesem Sinn be-griff-lich festgestellten Gegen-Standes die bestimmende Größe.

Mit dem Ergebnis dieses äußerst komprimierten Exkurses sind wir bereits unversehens mitten in unser eigentliches Thema eingetreten und vor den künstlerischen Ansatz Simone Thurners gebracht. Dieser vermag uns nun von seinen Grundlagen her deutlicher zu werden. Denn wir bemerken in ihrem Werk nirgends den Ausgang von einem Zentrismus, nirgends die Konstruktion aus fixierender Mitte, vielmehr beginnt alles – so darf gesagt werden – mit einem Austausch der Räume, mit einem lebendigen „Übergang“ von Innen und Außen. Erhellend ist in diesem Zusammenhang eine ihrer frühen Ausstellungen, wenn nicht sogar ihre erste, die als programmatische Overture ihres Kunstwollens angesehen werden kann. Präsentiert wurde damals eine Sequenz großformatiger  Wolkenbilder, gestaltet in fließend-strömender Bewegung (FLOW), sich fortwährend wandelnd im Reflexionsspiel des Lichtes und für die Besucher begleitet von einer audiellen Intervention, nämlich dem hörbar gemachten Atem der Künstlerin selbst. Bei der Vernissage rezitierte diese frei ein Gedicht aus den Sonetten Rilkes, das hier wiedergegeben werden soll:  

Atmen, du unsichtbares Gedicht!

Immerfort um das eigne

Sein rein eingetauschter Weltraum,

Gegengewicht,

in dem ich mich rhythmisch ereigne. (1)

Wir merken: Nichts ist hier in Statik gebunden, gleichsam als Gegen-Stand zum Stehen gebracht. Alles ist Dynamik; nicht der perspektivisch festsetzende Mittelpunkt, vielmehr eine die Standorte tauschende Bewegung erzeugt den Anfang. Damit ist klar, dass das jetzt sich Zeigende nicht in fixierten Grenzen erscheint, nicht als ein gegenständliches „Was“ umrissen ist, nicht festgestellt in starrer Kontur, sondern die Grenzen auflöst und fließend wird (FLOW).

Damit sind wir bei dem Grundthema Thurners schlechthin, dem sich konsequent auch ihre jüngeren Studien in Tusche widmen (2) . In verschiedenen, intuitiven Anläufen versuchen diese das Spannungsverhältnis von dynamischer Bewegung und bindender Form auszuloten. Sie nähern sich mit sensibler Einfühlung zuletzt dem Lebendigen als solchem, dessen rein vollzugshafte Dimension zwar niemals erreicht werden kann, das aber in den zeichnerisch nachempfundenen Formen des Wachsens als das eben Entschwundene im Bild präsent bleibt, d.h. in der Form der geheimnisvollen Abwesenheit seiner selbst zur Erfahrung kommt.

Auf anderer Ebene teilt sich dieses Spannungsverhältnis  in den schon früh entstandenen, lebensgroßen Menschenbildnissen Thurners mit. Hier wird ein fokussiert-geschärfter Hinblick auf Teilbereiche der menschlichen Gestalt gewährt, der sich aber zum Rand hin zunehmend in Unschärfe auflöst, sodass die Umrisse des Körpers pulsieren, sich in den Umgebungsraum verströmen, mit dem sie sich verweben; den sie durchmessen, durchschreiten, durchwesen, und aus dem sie umgekehrt ihr Wesen empfangen.(3) Das Menschliche, wie es uns in den unzähligen Darstellungen früherer Jahrhunderte begegnet und mit dessen Gestalt und Antlitz wir uns deshalb  vertraut wähnen, wird uns hier in einer neuen Sicht vermittelt. Denn als neu darf gelten, dass sich der Mensch nicht mehr bloß in das Gegenüber zur Welt gesetzt erfährt, welche  Welt er sich selbst entwirft bzw. als Widerpart seines Selbsterlebnisses begreift (4), sondern dass er jetzt selbst Teil des Ganzen ist, sich aus seiner Welt gleichermaßen empfangend wie in ihr sich ereignend.

Es ist eine neue Sichtung des Menschen, die Mensch und Welt im wechselseitigen „Über-gang“  sich ereignen lässt. Das ek-statisch vollzugshafte Moment solchen Übergangs entzieht beide einer was-heitlich feststellenden Bestimmung, womit es beiden auch einen gewissen Geheimnischarakter  bewahrt. (5)

Was die Neuheit dieser Sichtung des Menschlichen und des Wirklichen überhaupt betrifft, erweisen sich die herkömmlichen Begriffe, mit denen man Kunst einzuordnen pflegt, wie „innovativ“, „aktuell“ oder „avantgardistisch“ als unzureichend. Solche Zuordnungen sind nur akademische Verspieltheit. Denn hier geht es nicht nur um Avantgarde; es geht um mehr, nämlich um Epoche, d.h. um die Scheidung von davor und danach.

Nicht in den jüngsten Schrei künstlerischer Äußerung ist Simone Thurner einzuordnen, sondern in den Zusammenhang eines größeren Aufbruchs künstlerischer Ansätze  – mögen diese in ihrem jeweiligen historischen Entstehen auch um Jahrzehnte voneinander getrennt sein -,  eines Aufbruchs, der die bloß anthropozentrische Wirklichkeitsdeutung in der Kunst (hier die Scheidung der Epochen)  zu überwinden trachtet.

Ist diese Einordnung in einen größeren kunst- und geistesgeschichtlichen Kontext nachvollziehbar geworden, lassen sich auch drei besonders hervorzuhebende Wesenszüge im malerischen Werk Thurners nach ihrem inneren und logischen Zusammenhang bestimmen.

Ein erster ist darin auszumachen, dass die Scheu, das Wirkliche im feststellenden Zugriff zu erfassen und dingfest zu machen, ihm vielmehr  einen Geheimnisraum zu belassen, in einer Haltung sorgsamer Achtung und des Respekts vor dem Gegebenen Ausdruck findet. Im Letzten ist solche Haltung als Ehrfurcht zu benennen, und dieses etwas altmodische Wort soll uns vergegenwärtigen, dass es in der Kunst Thurners  auch um ein künstlerisches Ethos geht. Dieses muss sich selbstverständlich zuerst kunstimmanent bewähren, nämlich als ein Ethos der Kunst selbst, wofür die Wahrhaftigkeit des künstlerischen Ausdrucks steht. Es verlangt jedoch nicht minder  einen existenziellen Ernst, was im konkreten Fall durchaus auch bedeuten kann, den ganzen Lebensentwurf dem künstlerischen Engagement unterzuordnen und sich zu einem in materieller Hinsicht äußerst bescheidenen Lebensstil zu entschließen. Wer die persönlichen Lebensumstände der Künstlerin etwas kennenlernen durfte, dem zeigt sich dieses Ethos in den Formen ihres Wohnens (6), im Umgang mit den Dingen, im Sein-Lassen und in der Anerkenntnis des Anderen, in einer Haltung des Schonens, die die Natur um ihrer selbst willen achtet. Wenn man so will, sind dies alles gegenteilige Verhaltensweisen zum „Feststellen“, zum in den „Be-Griff“ nehmen, zum „Beherrschen“ und „Machen“ der Welt, wie all diese die Natur heute bereits auf das äußerste bedrohenden Formen Ausdruck eines anthropozentrischen Weltverständnisses sind. Was zuvor im Rahmen unserer einleitenden Überlegungen vielleicht noch verkürzt als ein bloß kunst-theoretischer Ansatz betrachtet werden konnte, nämlich die qualitative Überbietung einer nur gegen-ständlich / was-heitlichen Interpretation des Wirklichen, zeigt sich jetzt nach seinem ethischen Gehalt als ein sehr realer, existenzieller Anspruch auch der persönlichen Lebensgestaltung.

Wenn wir nun diesem Ethos im malerischen Werk selbst auf die Spur zu kommen trachten, sind es wiederum vornehmlich die Menschenbildnisse, die uns erhellende Einblicke geben. Denn was zuvor „Anerkenntnis“ genannt wurde, stellt sich nun dar als eine unverbrüchliche Sympathie für das Menschliche. Und dem entspricht auch, dass die Figuren, obwohl sie alle in völliger Nacktheit gezeigt werden, was ja nur ihre spontane Unmittelbarkeit und Unverstelltheit bedeutet, doch in ihrer Erscheinung für das bloß Interessante unzugänglich bleiben und dadurch die Würde ihres unantastbaren Eigenstands bewahren.

Ein zweiter Grundzug der Bilder Thurners, der erst allmählich zu Bewusstsein kommt, eben weil auch er nicht was-heitlich zu fassen ist, darf in deren impliziter Schönheit ausgemacht werden. Der Begriff „Schönheit“, der von der Kunstkritik noch bis in die jüngste Zeit als verdächtig angesehen wurde, ist nichts anderes als eine weitere Ausprägung des oben angeführten Begriffs der „Ehrfurcht“. Und auch er beruht letztlich auf einer Wahrhaftigkeit des Ausdrucks. Betrachten wir exemplarisch das Ölgemälde „DURCH UNS“, welches ein Liebespaar, einander zugetan und zugeneigt, zeigt. In der Beziehung der beiden Gestalten liegt nicht die geringste Aggression, sehen wir keine zerrütteten Verhältnisse. Alles erinnert an die jugendliche Liebe von Daphnis und Chloe, ist in diesem Sinne reiner frühlinghafter Anfang. Wiederum sind die Figuren nicht statisch umgrenzt, sondern schwingen sie, dass ihre Bewegung in der jeweils anderen zur Resonanz gelangt („DURCH UNS“), und ebenso den ganzen Bildraum erfüllt. Wesen rührt hier an Wesen, wobei die sich übertragende Schwingung wiederum die Nacktheit der Figuren zurücknimmt, verhüllt, gleichsam mit Keuschheit umkleidet und sie so der Ausgesetztheit durch einen unstatthaften Voyeurismus entzieht. Ähnliches ließe sich von allen Bildern Thurners sagen.

Als drittes Moment fällt auf, dass in den Arbeiten Thurners jeder gesellschaftskritische Bezug zu fehlen scheint, also gerade jenes Kriterium nicht erfüllt ist, durch das nach gängigem Kunstverständnis ein Kunstwerk erst zu einem solchen geadelt wird. Dieser Umstand kann jedoch, genau besehen, hier nur  wenig überraschen, als das Bloß-Gesellschaftliche im Sinne einer letztverbindlichen Deutungsinstanz von Wirklichkeit selbst noch dem Weltbild der Anthropozentrik angehört. Indem Thurner aber an das heranzuführen sucht, was allem begrifflichen Verstehen und seiner Vergegenständlichungsmacht vorgegeben ist, nämlich das Vollzugshaft –Lebendige, das Wirkende des Wirklichen, sozusagen das Wirkend-Wirkliche, verweist sie auf eine von uns in solcher Wortdoppelung anvisierte Tiefendimension der Realität, der auch ihre gesellschaftliche Interpretation verpflichtet sein muss. Dass letztere nicht primär auf das Subjekt hin, d.h. anthropozentrisch angelegt sein darf, wird unserem Zeitalter auf bestürzende Weise in der gesamten Umweltproblematik mehr als deutlich vor Augen geführt. Indem wir aber gerade vor solch dramatischem Hintergrund bei Thurner einen Anfang ihrer Kunst erkennen, der ursprünglicher als alle Deutung ansetzt, nämlich bei der Anerkenntnis des Gegebenen, dürfen wir ihr Werk durchaus als „gesellschaftkritisch“ verstehen, wenngleich in einem wesentlicheren und tieferen Sinn, als dieser Begriff gemeinhin im Bewusstsein ist.

Wir haben uns soweit dem künstlerischen Werk Simone Thurners gedanklich anzunähern versucht. Zurecht hat uns erstaunen lassen, welche Tiefe in ihm angelegt ist. Es soll deshalb abschließend nur noch eine letzte Überlegung aufgegriffen werden, die uns wiederum in den Gedankengang des einleitenden Exkurses zurückkehren lässt. Das berühmte Wort Hölderlins, dass wo Gefahr ist, auch das Rettende wachse (Patmos II) möge uns dazu einen Wink geben. Nur soll dieses Wort hier in umgekehrter Wendung aufgefasst werden: Wo das Rettende sich zeigt, d.h. der Ausbruch aus der Anthropozentrik, stellt immer jäh und unabweislich auch die Gefahr sich ein! Denn die Anstrengung, das statisch-begriffliche, an der Gegenständlichkeit orientierte Denken – dies ein hohes, wenn auch nicht das höchste Vermögen menschlicher Geisteskraft – durch Annäherung an das Unmittelbar-Lebendige zu überbieten, ist im letzten immer auch eine Anstrengung des Denkens gegen sich selbst. Dies deshalb, weil das Denken seiner begrifflichen Dimension, an die es unabdingbar gebunden bleibt, nie vollständig entraten kann. Und Gleiches gilt auch auf der Ebene der Kunst. Ein derart angelegter künstlerischer Entwurf bleibt deshalb notwendig aus dem Ursprung seiner eigenen Möglichkeiten hervor immer auch gefährdet; gefährdet nämlich, das angestrengte Ziel vielleicht auch nicht zu erreichen. So bleibt die Kunst ein Ringen. Großes ist uns in ihr aufgegangen; groß ist auch, was in ihrem Ringen auf dem Spiel steht!

 

Markus Illmer, Arch.

(Anlässlich der Ausstellung  ~FLOW~ im Kunst-Werk-Raum Mieming, 2019.

 

Anmerkungen

1)

Rainer Maria Rilke, Die Sonetten an Orpheus. 2. Teil, I. Ausstellung: TIEF DRAUSSEN. 06.-25. Nov. 2009, Andechsgalerie/Innsbruck.

2)

S.Th.: „Die grafischen Zeichnungen sind der Versuch des Erspürens von Bewegung und in Prozessen befindlichen Zuständen.“ In: Kat. 2018.

3)

S.Th.: „Die Bewegungsunschärfe deutet auch das Hinterfragen von Grenzen, von Innen und Außen, von subjektiver Wahrnehmung an, denn alles empfinde ich als aufnehmend und abgebend, atmend.“ In: Kat. 2018.

4)

Exemplarisch hierfür das Renaissance-Portrait, das den neuzeitlichen, bis in unsere Tage sich behauptenden Typus des Menschen repräsentiert. Die in diesen Portraits erstmals in Erscheinung tretenden Gestalten des Künstlers und des Händlers stehen für den Wissenschaftler/Techniker bzw. für den Macher und Welteroberer. Allesamt sind sie Super-Individualisten. Die Welt wird nun begriffen als das gegenständliche Material für die Selbstauferbauung des Menschen (Anthropozentrik).

5)

„Über-gang“ = griech. „Ek-stasis“.

M. Brüggeller: „(Simone Thurner) schafft eine große Projektionsfläche der Assoziationen. Sie schafft in ihren Ölbildern Raum für das Geheimnisvolle.“ In: Kat 2018.

6)

 

Siehe die etymologisch gemeinsame Herkunft von ethos = Wohnen; hexis = Teilhabe, habere (dt. haben); habitare = wohnen; habitus. Dazu Martin Heidegger, Bauen. Wohnen. Denken. In: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 7) 1994, 139-156.